Skip to main content
search
0

Im Münchner Pathologischen Institut liegen die Gebeine eines Riesen. Wer war dieser Mann zu Lebzeiten? Und welches Ereignis löste seinen Riesenwuchs aus? Fragen wie diesen geht Prof. Dr. Dr. Andreas Nerlich, renommierter Pathologe und Spezialist für historische Krankheitsforschung, in seinem neuesten Werk nach. In sorgfältiger Recherche zeichnet er das Leben und Leiden einer außergewöhnlichen Bauernfamilie aus dem Oberland nach – und damit das Schicksal jenes Mannes, der bis heute als der größte Mensch gilt, der je in Bayern lebte. Die Spurensuche führt in entlegene Täler der bayerischen Alpen, nach Gmund, Bayrischzell, Oberaudorf und Wolfratshausen – und schließlich auch nach München. Entstanden ist ein vielschichtiges Sittengemälde des 19. Jahrhunderts, das nicht nur das Leben des „Riesen vom Tegernsee“ rekonstruiert, sondern auch erzählt, wie seine Mitmenschen mit seiner Krankheit, seiner Erscheinung und seinem frühen Tod umgingen.

JG: Sie haben erstmals 1991 einen wissenschaftlichen Aufsatz über den „Riesen vom Tegernsee“ veröffentlicht. Wie sind Sie damals auf Thomas Hasler gestoßen?

AN: Mein damaliger Chef, Prof. Max Eder, rief mich eines Tages (ich war ein junger Assistenzarzt am Pathologischen Institut der Uni München) zu sich, und fragte mich, „ob ich den Riesen vom Tegernsee kennen würde?“ Auf meine negative Antwort hin, bat er mich, mir das Skelett in der damaligen Instituts-Sammlung anzusehen. Dabei fiel mir auf, dass der Kopf ganz überproportional groß im Vergleich zum sonstigen Skelett war und schlug Prof. Eder vor, Kopf und Beine (die man jeweils von dem sonst fest montierten Skelett abnehmen konnte) durchs CT zu schieben, was zuvor noch niemand getan hatte. Damit begann der Weg zur Identifikation von Thomas Haslers Krankheitsgeschichte …

JG: „Der größte Bayer und seine Familie“ ist bereits Ihre dritte Veröffentlichung über Thomas Hasler. Was lässt Sie nicht vom „Riesen“ loskommen?

AN: Die technischen Untersuchungsmöglichkeiten haben sich in den letzten 30 Jahren immer weiter verbessert: neue Generationen von CT-Geräten, Endoskope etc. öffnen immer wieder neue Möglichkeiten zur wissenschaftlichen Untersuchung – und wann hat man mal in seinem Leben einen Riesen (wenn auch nur als Skelett) als Untersuchungsgut vor sich?

JG: Für Ihre Recherchen sind Sie quer durch Bayern gefahren, haben verschiedene Orte aus der Haslerschen Familiengeschichte besucht und dabei auch lebende Nachfahren getroffen. Wie fühlte es sich an, diese „lebendige Geschichte“ abseits von Knochen und Papier zu erleben?

AN: Die große Frage  – nach der grundsätzlichen Klärung von Thomas Haslers Krankheitsgeschichte(n) – war, warum er zu Lebzeiten nie „offiziell“ als Riese soweit wahrgenommen wurde, dass man direkt über ihn – eine Begegnung, eine Zeichnung, ein Bild o.ä. – berichtet hätte? Dies brachte uns darauf, die Familiengeschichte zu untersuchen, um zu verstehen, wie man mit dem Menschen Thomas Hasler und seiner Erkrankung damals umgegangen ist. Erstaunlicherweise hat sich trotz dieses „Fehlens“ von schriftlichen Überlieferungen eine mündliche „Memoria“ in einzelnen Zweigen der Familie erhalten – und es war sehr spannend, wie auch berührend, von seinen (indirekten) Nachfahren die kleinen Geschichten und Anekdoten über Thomas Hasler zu erfahren.

JG: Gibt es ein Recherchedetail, das keinen Platz im Buch gefunden hat, das Sie aber unbedingt loswerden wollen?

AN: Noch nicht! Wir haben all unser Wissen – aus geschichtlichen wie medizinisch-naturwissenschaftlichen Quellen – in das Buch gepackt – aber ich habe die Hoffnung, dass auf die Veröffentlichung des Buches hin, sich weitere „historische Zeugen oder Zeugnisse“ (mündlich oder schriftlich) ergeben werden. Mal sehen …

JG: Sie sind auch anderen berühmten Toten auf den Leib gerückt, etwa Mumien-Berühmtheit Ötzi. Wollen Sie eine Lieblingsanekdote teilen?

AN: Dies würde sicher zu weit führen, denn jede Mumie – auch unberühmte – haben ihre „Geschichten“ – und wenn ich die mir widerfahrenen Erlebnisse zusammentragen würde, würde wohl ein mehrbändiges Werk entstehen…

JG: Sie haben im Beruf ständig mit Tod und Krankheit zu tun, auch Thomas Haslers Lebensgeschichte wartet mit einigen garstigen Details auf. Wie gehen Sie mit solchen Themen im Alltag um?

AN: Der Tod gehört zum Leben, das wird in unserer heutigen Zeit leider gerne sehr stark verdrängt. Sowohl in der Pathologie als auch in der Forensischen Medizin geht es aber darum, aus Krankheit, Tod und den Todesumständen zu lernen. Deshalb ist es zwingend nötig, mit einer professionellen Distanz heranzugehen und sich nicht emotional „anfassen“ zu lassen.

JG: Mortui vivos docent, die Toten lehren die Lebenden, so der Leitsatz der Pathologie. Wollen Sie zum Abschluss drei Lehren verraten, die Sie ganz persönlich aus Ihrer Arbeit ziehen?

AN: Erstens: Die „gute alte Zeit“ gab es nie. Zweitens: Es geht den heutigen Menschen gerade im Hinblick auf Gesundheits- und Krankheitsumständen so gut wie noch nie in der Geschichte. Drittens: Es würde dem heutigen Menschen gut stehen, ein bisschen demütiger mit dem Geschenk der Gesundheit und den modernen Möglichkeiten zu deren Erhaltung und Heilung umzugehen.

Der Autor

Prof. Dr. med. Andreas Nerlich, geboren 1957 in Landshut, ist habilitierter Pathologe. Er ist Mitarbeiter am Institut für Rechtsmedizin der Uni München. Sein besonderes Interesse gilt der Mumienforschung: Nerlich untersuchte Berühmtheiten wie den Ötzi oder altägyptische Priestermumien. Ihn interessieren die historischen Lebensumstände der Toten, jüngst im Fall des Münchner „Finessensepperl“. Über den „Riesen vom Tegernsee“ hat Nerlich bereits zwei Fachpublikationen veröffentlicht.

Das Buch

Hardcover mit UV-Lackierung
Format: 22 x 28 cm
Seitenzahl: 160
ISBN: 978-3-96395-046-9
Verkaufspreis: 28,- €

jetzt kaufen