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Die Wiesn… Bei der Benennung geht es ja schon los: international kennt man das größte Volksfest der Welt unter der Bezeichnung „Oktoberfest“, aber in München und im Umkreis der Landeshauptstadt wird es liebevoll „die Wiesn“ genannt, abgeleitet von der Theresienwiese, auf der das Spektakel alljährlich stattfindet. Und genau so, wie es zwei Benennungen gibt, gibt es auch zwei sich durchaus bisweilen kämpferisch gegenüberstehende Lager, was die Begeisterung für die Wiesn betrifft: die Gegner gehen soweit, die AOP (die Anti-Oktoberfest-Partei) gründen zu wollen: Alkoholexzesse, Schlägereien, sexuelle Übergriffe, die Kommerzialisierung des Ganzen (wer kann und will sich das noch leisten?), der Lärmpegel, die Umweltbelastung (der ökologische Fußabdruck der Wiesn ist erheblich), die Verfestigung kultureller Stereotypen (schließlich ist die Wiesn nicht gleich München und nicht gleich Oberbayern und erst recht nicht gleich Bayern oder gar Deutschland, auch wenn die Medien das gerne so transportieren) und ein Übermaß an Touristen zu dieser Zeit sprechen gegen das Spektakel. Die Befürworter (zu denen zugegebenermaßen auch ich gehöre) sehen das natürlich ganz anders: da sind etwa das kulturelle Erbe und die Tradition, die auf diesem seit über 200 Jahren gefeierten Fest bewahrt und gefördert werden, die Wiesn ist unumstritten eine touristische Attraktion, die zum positiven Image und zur internationalen Bekanntheit Münchens beiträgt, das Fest bringt erhebliche wirtschaftliche Vorteile für München und die Region und an kaum einem Ort werden Gemeinschaftsgefühl und Geselligkeit so gepflegt.

Wenn man, wie ich, dann so ungefähr seine 50. Wiesn hinter sich hat, kommt man auch schon mal ins Grübeln, und fragt sich, warum einen die Wiesn eigentlich so begeistert – vom Bier und den Fahrgeschäften einmal abgesehen, denn das können auch andere Volksfeste. Da ist zum einen dieser schon als barock zu bezeichnende Gestaltungswille des Menschen, der hier in Erscheinung tritt und eine öde Asphaltfläche in eine Art Disneyland verwandelt (das übrigens keinen Eintritt kostet!) und das für nur 16 höchstens 18 Tage. Da hätte selbst der Sonnenkönig Ludwig XIV. den Hut gezogen. Bei etwa 7 Millionen Besuchern in 16 Tagen schwingen an einem Tag über 400.000 Menschen an einem geographisch begrenzten Ort gleichzeitig positiv: Selbst wer nicht an morphogenetische Felder glaubt, kann sich dieser Massenekstase kaum entziehen. Die Wiesn ist außerdem ein ästhetisches Erlebnis, ein Gesamtkunstwerk, ein multisensorisches Ereignis: es riecht gut, es schmeckt gut, das Bier leuchtet gelb und der Himmel idealerweise weiß-blau, und dass sich der Trend immer mehr zu wirklich schönen Trachten entwickelt, tut dem Erscheinungsbild der Wiesn keinen Abbruch.

Aber da ist noch mehr. Eine Liebe zum Detail, ein Gestaltungswille, der sich bis in die entlegensten Winkel erstreckt. Man muss fast annehmen, es existiere ein (heimlicher?) Leitfaden, wie Verkaufsstandl, Zelte und Fahrgeschäfte aussehen müssen und als ob sich alle an diesen Leitfaden halten würden. Und selbst Ausreißer, die man mit gutem Willen vielleicht als Kitsch bezeichnen kann (Kaiserschmarrn-Zelt?) fügen sich harmonisch ins Gesamtkonzept. Man hat durchwegs den Eindruck, als würde eine ordnende, durchaus designaffine Hand die Dinge gestalten. Fahrgeschäfte sehen natürlich überall gut aus, sie leuchten fantastisch in der Nacht, sie sind bunt und die Beschriftungen sind ein Knaller! Und was gibt es überhaupt für großartige Beschriftungen auf der Wiesn: Rockabilly-Schriften aus den fünfziger Jahren, die Hinweisschilder für die Toiletten „dort kann man – wenn man muss“, ein „München“ aus lauter kleinen Glühbirnen, der exaltierte „Looping“-Schriftzug auf dem Fünferlooping, das Wort „Mandeln“ in tausend Variationen, kitschige Goldschriften, die die Hersteller der Konzertorgeln benennen, die Zuckerschriften auf den Lebkuchenherzen oder das einzigartige Ankündigungsschild vom Schichtl: „Heute Entschädelung“.

Und dann ist da noch dieses bayerische Element, das, was man in der ganzen Welt unter „bayrisch“ versteht; die Tatsache, dass man überall auf der Wiesn erkennt, dass man in (Ober-)Bayern ist. Wie geht das? Und warum (und hier müssen mir wohl auch die Wiesngegner zustimmen) sieht die Wiesn besser aus als alle anderen Volksfeste dieser Welt? Wie kann es sein, dass die Wiesn in einem so einigermaßen einheitlichen und aufeinander abgestimmten Erscheinungsbild daherkommt? Im Oberbayern-CD sozusagen, im Corporate Design Oberbayerns?

Von 13 Bewertungskriterien, die man möglichst erfüllen muss, wenn man ein Geschäft auf der Wiesn anmelden möchte, wird unter Punkt 6 aufgeführt, dass auch die Optik des Geschäftes (Fassade, Malerei, Beleuchtung etc.) bewertet wird: „Nachweise sind Fotos vom Geschäft in betriebsbereitem Zustand. Bei begehbaren Geschäften auch Fotos der Innenausstattung. Beschreibung von wichtigen Details (z.B. besondere Beleuchtung oder Malerei).“ Schick und schön müssen sie also sein, die Geschäfte auf der Wiesn, aber von traditionellen oder bayerischen Elementen wird hier nicht gesprochen. So kann man nur vermuten, dass sich vor allem die nicht reisenden Unternehmen nach eigenem Gutdünken einen „bayrischen“ Look geben.

Und wie sieht es nun aus, dieses Bayern-CD? Weiß-blaue Rauten selbstverständlich (die übrigens aus dem Wappen der Grafen von Bogen in Straubing in Niederbayern stammen), Hopfenranken und Tannengrün, gelbe Flüssigkeit in Glaskrügen mit Schaum obendrauf und Dirndl und Lederhosen.

Den Typonerds, den typografisch interessierten Menschen, sticht auf der Wiesn allerdings noch eine andere Zutat ins Auge: die hartnäckige und scheinbar unumgängliche Verwendung von sogenannten gebrochenen Schriften und deren Abwandlungen. Gebrochene Schriften sind Schriftarten, bei denen die Bögen eines Buchstabens ganz oder teilweise gebrochen sind: sie entstehen aus einer Schreibbewegung, in der ein oder mehrere Richtungswechsel in der Strichführung einen gut erkennbaren Bruch in eben diesem Bogen verursachen. Vom 16. Jahrhundert bis zum frühen 20. Jahrhundert waren gebrochene Schriften die am häufigsten verwendete Druckschrift im deutschsprachigen Raum; sie wurden jedoch auch in den nordeuropäischen Ländern (etwa in den Niederlanden, in Dänemark und in Großbritannien) häufig benutzt, in Deutschland hielten sie sich aber hartnäckig, auch als sie in den anderen Ländern schon längst wieder aus der Mode waren. Der Reichskanzler Otto von Bismarck etwa weigerte sich, Bücher zu lesen, die nicht in einer gebrochenen Schrift gesetzt waren, sondern in lateinischen Lettern. Und so wurden diese Schriftarten als besonders deutsch empfunden.

Über die gebrochenen Schriften wird viel spekuliert, stehen sie doch im Verdacht, „Nazischriften“ zu sein. Zwar wurden während der NS-Zeit häufig gebrochene Schriften verwendet, aber auch deswegen, weil in den Druckereien diese Schriften vorhanden waren. Und sie wurden von den Nazis als »die einzig wahre deutsche Schrift« propagiert. Es wurden sogar besonders martialische gebrochene Schriften entwickelt, wie etwa die „Tannenberg“. Die Nazis mussten jedoch schnell erkennen, dass die Menschen in den eroberten Gebieten keine gebrochenen Schriften lesen konnten. Daher wurden die gebrochenen Schriften kurzerhand als “Judenlettern“ diffamiert und ihre Verwendung 1941 im sogenannten Bormann-Erlass verboten: „Am heutigen Tage hat der Führer in einer Besprechung mit Herrn Reichsleiter Amann und Herrn Buchdruckereibesitzer Adolf Müller entschieden, dass die Antiquaschrift künftig als Normal-Schrift zu bezeichnen sei. Nach und nach sollen sämtliche Druckerzeugnisse auf diese Normal-Schrift umgestellt werden.“

Während der Aufarbeitung der NS-Zeit in den 1960er Jahren bürgerte es sich sowohl in Printmedien als auch im Fernsehen ein, gebrochene Schriften zu verwenden, wenn es um Nazis ging und zahllose Schriftstücke aus der Zeit vor 1941 waren ja auch in gebrochenen Schriften gesetzt. Und so bekam der Anblick der gebrochenen Schriften für die Betrachtenden allmählich etwas „Nazihaftes“.

Doch tatsächlich sind die gebrochenen Schriften für eine ganz andere, für die Wiesn wahrhaft existenzielle Sache typisch: nämlich für Bier. Als im 19. und im frühen 20. Jahrhundert daran ging, eine Markenidentität und Logos zu schaffen, entschieden sich Brauereien im deutschsprachigen Raum oft für die gebräuchlichen Schriften ihrer Epoche, also für gebrochene Schriften: sie waren ein Ausdruck kultureller Identität, man wollte die regionale und nationale Verbundenheit sowie die Verbindung zur deutschen (Brau-) Tradition und Geschichte betonen. Gebrochene Schriften vermittelten Authentizität und Beständigkeit, sie hatten einen offiziellen und verlässlichen Charakter, was besonders für Produkte wie Bier, bei denen Qualität und Tradition geschätzt wurden, wichtig war. Zudem waren gebrochene Schriften in den Druckereien vielfach vorhanden und daher leicht zugänglich.

Das Haus der bayerischen Geschichte argumentiert, dass in seinem neuen Logo „in Anlehnung an die Verfassungsdokumente Bayerns eine Frakturschrift (also eine gebrochene Schrift), die für das Fundament der Demokratiegeschichte des Landes steht“ verwendet wird. Ein schöner Gedanke, aber natürlich sind auch andere deutsche Verfassungsdokumente, wie etwa die Preußische Verfassung von 1848 in einer gebrochenen Schrift gedruckt worden; wer es ganz genau nehmen möchte: beide Dokumente sind in Fraktur gedruckt, einer Untergruppe der gebrochenen Schriften, sowie eben die meisten offiziellen Schriftstücke in Deutschland im 19. Jahrhundert; sowie sich auch viele heute noch gebräuchliche Logos von Tageszeitungen einer gebrochenen Schrift bedienen.

Und auch die Argumentation für die Verwendung einer gebrochenen Schrift im neuen Oktoberfestlogo, lässt Fragen offen: „Die Bildmarke basiert dabei auf einer gebrochenen Schrift – der Fraktur –, die zum Gründungszeitpunkt des Festes üblicherweise in Bayern verwendet wurde. Diese wird jedoch modern und zugänglich interpretiert – insbesondere in Hinblick auf Internationalität und optimale Lesbarkeit – in Form einer vollständig neuen, eigenständigen und zeitgemäßen Marken-Schrift für das Oktoberfest, die den passenden Namen ‚Wiesn‘ trägt.“ Denn die Schriften wurden eben nicht nur in Bayern, sondern im gesamten deutschsprachigen Raum verwendet. Warum sind sie also typisch für Bayern? Fast grotesk mutet es an, dass die Macher des Oktoberfestlogos mit denselben Problem wie die Nationalsozialisten zu kämpfen haben: gebrochene Schriften können viele Menschen (in diesem Falle Touristen auf dem Oktoberfest) nicht lesen, weswegen das Oktoberfest-Logo auch nur die Anmutung einer gebrochenen Schrift hat. Ob die Wiesn wirklich ein Logo braucht, darüber ließe sich ja sowieso trefflich streiten, denn auch ohne Logo ergibt sich seit Jahrzehnten, ja seit Jahrhunderten ein überzeugendes Gesamtbild.

Es stellt sich also vielmehr die Frage, warum die gebrochenen Schriften eigentlich ausgerechnet an Bayern als identitätsstiftend hängen geblieben sind? Ist der Grund dafür wirklich das Bier? Wie auch immer, wenn es 21. September wieder „O’zapft is!“ heißt, dann erfreue man sich am besten an beidem: den schönen Schriften auf der Wiesn und dem süffigen Bier.

Wiesntypozilla
Fotografien von Schriften auf dem Oktoberfest
Erscheinungstermin: Juli 2024
Format: 160 x 140 mm
Seiten: 152
Hardcover mit Goldprägung
Limitierte Auflage von 250 Exemplaren.

Preis: 24,- Euro

Bestellbar über den August Dreesbach Verlag: info@augustdreesbachverlag.de

ISBN: 978 3 96395 044 5